Die Sonne scheinen lassen

Die Sonnenscheindauer im Dezember 2008 betrug in Deutschland im Mittel nicht einmal 48 Stunden. Das ist ziemlich wenig – und trotzdem ein überdurchschnittlicher Wert im langjährigen Vergleich. Der Dezember 2008 steht auf Platz 10 der sonnenscheinreichsten Dezembermonate seit 1951. Farbgestalter sollten das beachten, wenn sie die nächste Fassade planen! Unsere kleine Sehschule zeigt, worauf es ankommt.

Gute und schlechte Gestaltungen?

Es ist so eine Sache mit „Regeln für Farbgestaltung“. Wer bestimmt denn, wann eine Gestaltung gut (also richtig im Sinne der Regel) und wann sie schlecht (also falsch und missglückt) ist? Und welcher Gestalter lässt sich gerne sagen, wie er es machen soll? – Hier müssen wir zweierlei unterscheiden. Erstens: Auch wenn Regeln heute verpönt sind: es gibt sie und sie haben Gültigkeit, ob man will oder nicht, denn sie hängen mit der Natur der sinnlichen Wahrnehmung zusammen. Schauen Sie sich die Fotos auf diesen Seiten an, und Sie erkennen einige Gesetzmäßigkeiten. Zweitens: Welche Regeln man anwendet und welche man ignoriert, das hängt von dem Ziel ab, das man mit einer Gestaltung verfolgt. Wer das Ziel hat, seine Mitmenschen zu ärgern, zu verunsichern oder einzuschüchtern, wird alles daran tun, natürliche Sehgewohnheiten zu enttäuschen und „gegen die Regeln“ zu arbeiten. Möglich ist aber auch, das man Schönes schaffen und Gutes tun möchte, aber die Regeln nicht kennt und aus Unwissenheit Gestaltungen entwirft, die den Betrachter irritieren.

Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 1
Sonnenlicht modelliert den Baukörper, dessen einfarbiger Anstrich mehrfarbig wirkt.
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 1
Im diffusen Licht wirkt Monochromie jedoch eintönig bzw. trostlos.
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 1
Das Hell-Dunkel-Spiel suggeriert Sonnenschein!
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 1
Die Gebäudestatik wird in der Hell-Dunkel-Verteilung abgebildet.

Licht und Schatten auf plastischen Oberflächen

Nehmen wir an, wir betrachten bei wolkenfreiem sonnigen Himmel ein einfarbiges Gebäude vor uns, das nicht im Gegenlicht steht. Die hervorspringenden Bauelemente werfen Schatten auf die dahinter liegenden. Durch die Schattenwirkung scheinen die vorne liegenden Elemente tendenziell heller zu sein als die hinten liegenden. Je nach Sonnenstand (Reflexionswinkel) sehen manche diagonal stehenden Flächen heller, andere dunkler aus. Der Erker in Abbildung 1 wird auf diese Weise vom Licht wunderbar plastisch modelliert! Dieser Anblick ergab sich in einer der wenigen Sonnenstunden im Dezember 2008.

Wesentlich häufiger ist der Anblick, den Abbildung 2 vermittelt. Im diffusen Licht ist bis auf eine schmale Schattenkante nichts von der Plastizität des Erkers wahrzunehmen. Dieser Zustand ist der Normalzustand; und an solchen Lichtsituationen muss beurteilt werden, ob eine Gestaltung „gut“ oder „schlecht“ ist.

Wir dürfen sicherlich voraussetzen, dass die meisten Menschen mehr Freude haben, von der Sonnen beschienene, interessant strukturierte, nachvollziehbare Formen anzuschauen, als sich einer diffus ausgebreiteten Einheitsfarbe auf kaum greifbaren Flächen gegenüber zu sehen. Abbildung 1 ist einfach schöner als Abbildung 2. Unter dieser Voraussetzung zeigt Abbildung 3, die im diffusen Nebellicht fotografiert wurde, eine gelungene Gestaltung. Der Erker ist heller als die Hauptfläche, gehört aber derselben Farbfamilie an, und der Hell-Dunkel-Sprung entspricht in etwa dem Licht-Schatten-Spiel, das an einem Sonnentag wahrgenommen werden kann. Die Gestaltung kommt der natürlichen Empfindung des Vorn-Hinten und Hell-Dunkel entgegen. Sie suggeriert ein freundlicheres Licht als es tatsächlich scheint! Die Gestaltung aus Abbildung 4 geht noch einen Schritt weiter. Auch dieses Foto wurde an einem sehr trüben Tag aufgenommen – aber die Atmosphäre, die von der Fassade ausgeht, ist in der Lage, Trübsinn zu vertreiben! Der dunkle, „schwere“ Sockel, der außerdem einige Zentimeter zurückversetzt zu liegen scheint, trägt das etwas hellere Gebäude, aus dem – wiederum etwas „leichter“ – der Erker nach vorn „herauswächst“.

Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 2
Diese Hell-Dunkel-Verteilung orientiert sich am Relief der baulichen Struktur.
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 2
Hier wird die Hell-Dunkel-Verteilung konträr zur natürlichen Seherfahrung eingesetzt.

Architektur lesbar machen

Wenn wir fordern, durch Farbigkeit Architektur lesbar zu machen, soll das nicht heißen, dass Architektur ohne Farbigkeit unleserlich ist. Abgesehen davon ist Farbigkeit ja Bestandteil der Architektur. Wir wollen nur darauf hinweisen, dass manche Farbigkeiten „gegen das Bauwerk“ arbeiten (was durchaus reizvoll und gewollt sein kann), eine „gelungene“ Farbgestaltung das Bauwerk hingegen in seinen Strukturen unterstreicht und dem Betrachter erleichtert, es zu erfassen, zu interpretieren und in sein Wahrnehmungsbild einzuordnen. Die Bilder 5 und 6 zeigen das eindrücklich: Für jedes wurden dieselben Farbnuancen verwendet. Wenn wir den helleren, aktiveren Ton den hervorstehenden Treppenhaustürmen zuordnen (5), wirken diese plastisch modelliert, und außerdem als sonnige Aufhellungen der „stabilen“ Grundfarbigkeit. Im andern Fall (6) wird das bauliche Vor und Zurück durch die Hell-Dunkel-Verteilung nivelliert. Das Bauwerk verliert an plastischer Wirkung, an Prägnanz und intuitiver Erfassbarkeit, und auch die Sonnenstimmung gehen verloren, obwohl die gelb beschichtete Fläche in absoluten Quadratmeterzahlen sogar größer ist!

Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 3
Hauptfläche und Erker haben farblich nichts miteinander zu tun zu, scheinen sich fremd zu sein.
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 3
„Akzent-Erker“. Aber wozu?
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 3
Der Hell-Dunkel-Sprung und der Bunt-Unbunt-Kontrast teilen den Baukörper auseinander.
Bild: Architekturfarben Gestaltungslehre Die Sonne scheinen lassen Bilder 3
Wie würde das Gebäude wirken, wenn man Helligkeiten und Intensitäten variiert?

Jede Chance nutzen!

In keiner Stadt wird man lange suchen müssen, um bauliche Vorsprünge zu finden, die ähnlich wie die Erker der Bilder 7 bis 10 gestaltet sind. Sicherlich möchte nicht jeder Bauherr den Regeln folgen, und setzt gern eigene Akzente, oder er ist auf die Regeln nicht aufmerksam gemacht worden. Wer sein Auge jedoch schult, wie das Vor und Zurück mit dem Hell und Dunkel und mit dem Erzeugen einer sonnigen Stimmung auch an trüben Tagen zusammenhängt, wird sich gerne ein Naturgesetz zum Verbündeten machen, und seinen Mitmenschen dadurch harmonische, stimmungsvolle Anblicke bescheren.
Bleibt noch anzumerken, dass es auch hier Ausnahmen bzw. Erweiterungen der Regel gibt. Diese betreffen zum Beispiel die Gegenlichtwirkung (Tunneleffekt): Dann ist der Vordergrund dunkel, der Hintergrund hell, und auch das kann sinnvoll eingesetzt werden.

Text und Fotos: Martin Benad
veröffentlicht in "Mappe - die Malerzeitschrift", Heft 3/2009
im Rahmen einer 21-teiligen Serie von Martin Benad über Architekturfarbgestaltung